Depressionen, Amokläufe und gewaltfreie Kommunikation. Sind Autoren für die alltägliche Gewalt verantwortlich?
skip to Article →Es ist Freitag Abend, der 22. Juli 2016. Ich sitze still, auf dem Tisch vor mir mein Handy. Ich starre es an, doch es bleibt stumm. Einige Zeit zuvor habe ich eine SMS abgeschickt. An Menschen, die ich liebe und die zufälligerweise in München wohnen.
Vor mir mein Computerbildschirm, im Hintergrund läuft TV. Nur das Handy, das bleibt still.
Ich denke an das Buch, das ich gerade lese. Darin geht es unter anderem um die Depressionen, die Bewältigung von Traumata und um die gewaltlose Kommunikation. Nein, ich will niemanden entschuldigen. Das kann und will ich nicht. Aber vielleicht wird dieser eine Artikel die Welt um mich herum ein kleines bisschen netter machen. Nur ein kleines bisschen, das reicht mir schon.
Was hat das Buch mit dem Amoklauf von München zu tun, fragen Sie mich? Ich weiß es nicht. Vielleicht, dass der Amokläufer die Menschen gezielt an den Tatort lockte, weil er sich für die Demütigungen rächen wollte. Demütigungen, die so empfunden oder auch tatsächlich passiert sind.
Er verspätet sich wieder. Sie wartet am Tisch wie bestellt und nicht abgeholt. Eine halbe Stunde später, sie ist schon im Begriff zu gehen, taucht er auf. Er setzt zu einer seiner ewigen Entschuldigungen an, doch sie ist schneller. Diesmal will sie keine Entschuldigungen. Diesmal will sie keine Ausflüchte. Diesmal will sie ihm ihre Meinung sagen.
„Schatz, es …“
„Spar dir deinen Schatz. Du bist schon wieder zu spät. Ich bin dir egal. Nein, ich bin nur so ein Flittchen für dich, das geduldig auf dich wartet, wenn der Herr sich mal wieder verspätet. Aber weißt du was? Nicht mit mir.“
„Verdammt, Mel, ich konnte nicht früher …“
„Wer war es diesmal? Eine Blondine wie ich dich kenne.“
Wir lassen das Paar alleine. So lange dürfte das Paar eh nicht mehr ein Paar bleiben. Denn nach diesem Gespräch, bei dem er keine Möglichkeit hatte, ihr zu erklären, dass es diesmal (mal wieder) um Leben und Tod ging und die Patientin diesmal (wie so oft) leider nicht geschafft hatte und er trotzdem (wie immer) versucht hatte, rechtzeitig zum fünften und leider dem letzten gemeinsamen Hochzeitstag zu kommen …
Manchmal sind es alltägliche Spitzen, die wir bewusst oder unbewusst austeilen. Manchmal ist es das gedankenlos zu einem Kind dahin geworfene „Lass das, du kannst es eh nicht“ Manchmal ist es ein Wort, das das Fass zum Überlauf bringt. Manchmal ein Satz, der das Kind sein Leben lang prägen wird, ein dummer, gedankenloser Satz einer dummen, gedankenlosen Erzieherin.
Wussten Sie, dass man anhand eines Streites vorhersagen kann, wie lange ein Paar zusammen bleiben wird? Man braucht nur zu beobachten, wie es miteinander in so einer Stresssituation umgeht. Marshall Rosenberg, ein Experte für gewaltfreie Kommunikation, nennt folgende vier Warnzeichen die „vier apokalyptischen Reiter“ einer Kommunikation:
- Kritik, die anstatt einer Beschwerde oder Bitte vorgetragen wird (impliziert immer, dass der Angesprochene ein Problem hat)
- Verachtung (auch nicht ausgesprochene, wie zum Beispiel Augen verdrehen)
- Gegenangriff
- und totaler Rückzug
Jede einzelne dieser Verhaltensweisen zielt darauf ab, den anderen zu verletzen anstatt sich mit dem Streitthema auseinander zu setzen.
Und wie sieht nun das Gegenteil davon aus? Rosenberg empfiehlt, objektiv zu bleiben und sich vor allem auf sich selbst zu beziehen. Mit anderen Worten, nicht das Problem des anderen ansprechen, sondern sich und das eigene Problem mit dem Verhalten des anderen in den Vordergrund stellen.
Er kam zu spät? Nicht er hat ein Problem („Du behandelst mich wie Dreck“), denn das ist eine Unterstellung, die so nicht stimmen muss, also diskutierbar ist und bleibt, sondern sie hat ein Problem („Dein Verhalten verletzt mich. Ich komme mir vor, als würde ich Dir nichts mehr bedeuten“) mit seinem Verhalten („Du kommst immer zu spät ohne mich darüber auch in Kenntnis zu setzen. Ich sitze hier und werde mitleidig angestarrt“).
Dadurch, dass sie sich auf Tatsachen beschränkt (er kommt oft zu spät, sie wird angestarrt) und von ihren eigenen Gefühlen spricht (sie käme sich vernachlässigt vor, als wäre ihm alles andere wichtiger als sie), kann er sie nicht einfach beiseite schieben.
Und so empfiehlt Rosenberg für eine gelungene Kommunikation:
- Erstens: jedes Urteil/jede Kritik vermeiden, objektiv bleiben, konkrete Tatsachen benennen, nicht verallgemeinern
- Zweitens: bei den eigenen Gefühlen bleiben, keine Absichten unterstellen
- Drittens: enttäuschte Hoffnungen und Bedürfnisse ansprechen
Strikt notwendig sind eigentlich nur die ersten zwei Punkte. Doch wenn wir zusätzlich dazu auch noch den Grund benennen können, warum wir von dem Verhalten des anderen so enttäuscht wurden, kann er uns und unsere Enttäuschung besser verstehen.
Natürlich müssen beide Seiten bereit sein, ihre Kommunikation gewaltfrei zu gestalten. Doch warum nicht bei sich selbst anfangen? Warum nicht seinen Kindern beibringen?
Würde dieses Verhalten einen Amoklauf verhindern? Ich weiß es nicht. Doch warum es nicht einfach mal versuchen? Da bin ich wie die US-Schönheitsköniginnen: Auch will einfach mal die Welt retten.
Irgendwann spät Abends, es ist eigentlich schon Nacht, der erlösende Anruf. Wir sind angekommen. Wir waren in Würzburg, unseren Studenten abholen. Ach ja, denke ich, damit er nicht den Zug nach Hause nehmen muss. Den Zug vielleicht, in dem erst wenige Tage zuvor jemand Menschen mit der Axt und mit dem Messer schwer verletzt hatte. Alles gut, sage ich, danke für den Rückruf.
Ihre Mira Alexander
P.S.: Wussten Sie, dass es eine Untersuchung gibt, der zufolge die Gewalt auf der Strassen in den Ländern am größten ist, wo in der Literatur am striktesten zwischen „gut“ und „böse“ unterschieden wird? Heißt es nun, dass die Schriftsteller eine besondere Verantwortung für die alltägliche Gewalt tragen? Das glaube ich nicht. Ich glaube eher, dass sie der Spiegel der Gesellschaft sind, denn sie sind das Produkt ihrer Gesellschaft. Einerseits stammen sie aus so einer Gesellschaft, andererseits schreiben sie für so eine Gesellschaft. Und wenn die Gesellschaft auf ihren Vorurteilen beharrt (Gut vs. Böse), dann tun es die daraus stammenden Schriftsteller und die von ihnen verfasste Literatur auch.
P.P.S.: Bei dem Buch handelt es sich übrigens um „Die neue Medizin der Emotionen: Stress, Angst, Depression: Gesund werden ohne Medikamente“ von David Servan-Schreiber.
- Foto: Dan Edwards
- Manipulation: Mira Alexander
Sie haben eine Anmerkung oder eine Anregung zu diesem Artikel? Ich freue mich über Ihren .