Warum ich Geschichten in Präsens und erster Person hasse … und wie ich bekehrt wurde
skip to Article →Stellen Sie sich vor, Sie können Geschichten, die in Präsens erzählt werden, nicht ausstehen. Und auch eine von der dritten Person abweichende Erzählperspektive (POV) bereitet Ihnen Unbehagen. Beides zusammen ist für Sie ein 99,9999-prozentiges Ausschlusskriterium für die Auswahl Ihrer Lektüre.
Und jetzt stellen Sie sich vor, wie Sie über ein Buch stolpern, das Sie fesselt. Sie so fesselt, dass Sie darüber hinweg sehen, dass es keine dritte Person ist; sogar die Tatsache, dass es in Präsens geschrieben wurde, spielt keine Rolle mehr.
Sie würden gerne wissen, was mich bekehrte? Dazu müsste ich ein wenig ausholen.
Warum das leidige Präsens?
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, doch ich habe ein Problem mit Geschichten, die im Präsens erzählt werden. Fragen Sie mich nicht warum, es ist so. Glauben Sie mir, niemand würde den Grund dafür mehr wissen wollen wie ich selbst. Denn diese Abneigung führt dazu, dass ich selbst die Geschichten, die mir ansonsten gefallen, nicht zu Ende lese oder aber mich bis zum Ende quäle (und was das für Lesegenuss bedeutet, brauche ich Ihnen nicht zu erzählen).
Erst neulich las ich ein Buch Wenn du vergisst: Band 1 von Heidrun Wagner; das Cover hat es mir angetan), das erste einer ganzen Reihe. Die Geschichte war spannend. Ich wollte gerne wissen, wie die Protagonistin wissen konnte, was sie wusste. Noch mehr wollte ich wissen, wer das Verbrechen begangen hatte und warum. Doch dieses leidige Präsens! Ich kürze es ab: Das Buch habe ich mir reingewürgt, die Fragen blieben offen, denn den Rest der Reihe tue ich mir nicht an. Tut mir leid für die Autorin (die Story ist gut), tut mir leid für mich (ich werde es nie erfahren).
Wer ist hier das Ich?
Und dann gibt es noch die Erzählperspektive (POV) der ersten Person (der sogenannte Ich-Erzähler). Auch so etwas, was ich nicht leiden kann, auch wenn ich hier (im Gegensatz zu dem Präsens) durchaus den Grund kenne: Jedes mal, wenn es im Text heißt „Ich öffnete die Tür“ schreit in mir alles „Nein! Ich öffnete die Tür nicht!“
Wo liegt das Problem?, werden Sie fragen. Wir hören doch täglich die Ich-Erzähler, die von ihren tatsächlichen (oder auch ausgedachten) Abenteuern als Ich-Erzähler berichten.
Dagegen habe ich nichts. Denn in dem Moment, wo diese Person sagt „Ich öffnete die Tür“, habe ich ihre Stimme in meinem Kopf. Sie ist das handelnde „Ich“. Wohingegen wenn ich diesen Satz lese, ich nur meine eigene Stimme im Kopf höre. Doch mein Ich ist nicht das Ich der Geschichte. Und deshalb schreit alles in mir bei jedem „Ich“, das ich lese „Nein! Ich tue das nicht!“
Wieso fing ich das Buch an?
Wie kommt es also, dass ich dieses Buch las, wenn für mich schon Präsens alleine ein (fast) Killer-Kriterium ist? Wie kommt es, dass ich mich über die Barrieren hinweg setzte, die der Autor des Buches für mich errichtet hatte? Warum konnte ich das Buch genießen, ohne die ganze Zeit mit meiner inneren Stimme zu diskutieren?
Ich gebe zu, dass ich die Leseprobe nur deshalb heruntergeladen habe, weil mir das Cover so sehr zusagte. Vielleicht wissen Sie, dass ich selbst Buch-Cover gestalte; nennen Sie es also ruhig berufliches Interesse. Ich wollte einfach wissen, welche Geschichte sich dahinter verbirgt (denn für mich müssen die Buchcover eine ganze Geschichte erzählen; sorry, keine rehäugige junge Mädchen, die direkt in die Kameras schauen. Nicht auf meinen Covern).
Französisch?, fragen Sie. Egal, sage ich. Denn ich übersetze fremdsprachige Romane beim Lesen nicht. Der Inhalt landet so, wie ich ihn wahrgenommen habe (unabhängig von der Sprache) im Gehirn. Mit der Konsequenz, dass ich kurze Zeit später nicht mehr weiß, in welcher Sprache mir die Information vermittelt wurde. Mein Gehirn verwarf die irrelevante Information (Informationsträger, also die jeweilige Sprache) und speicherte nur die Daten (Informationsgehalt, also den Text).
Sie sehen, die Sprache spielt bei mir für die Wahrnehmung des Präsens keine Rolle. Da es das Buch noch nicht in Deutsch gibt, konnte ich keine Probe aufs Exempel machen.
Ich lud mir die Leseprobe der französischen Ausgabe von „Un appartement à Paris“ von Guillaume Musso mit einem wunderschönen Cover auf mein Tablet herunter und verzog mich ins Bett. Alle anderen schliefen bereits, es schnarchte von allen Seiten, die frische Nachtluft ließ die Lamellen des Vorhangs leise klappern. Nur das gedämpfte Licht meines Tablets erhellte die Dunkelheit wie eine Kerze. Ich schlug das Buch auf und tauchte ein …
Wie bekehrt man Leser?
Ich tauchte ein und nahm nicht bewusst wahr, dass die Geschichte in Präsens erzählt wurde. Verstehen Sie mich richtig: Die Geschichte kam in meinem Gehirn in Präsens an. Dieses Präsens störte aber nicht, war keine Barriere für die Aufnahme der Geschichte.
Warum?
Kurz vor dem Ende der Leseprobe, als ich endlich bewusst wahrnahm, dass es Präsens ist (klingt das für Sie widersprüchlich?), war ich baff. So richtig platt. Ich ließ mein Tablet in den Schoß sinken, starrte seinen beleuchteten Bildschirm an und fragte mich, was hier gerade passierte.
Verstehen Sie mein Problem? Es ist unverständlich. Es ist unlogisch. Es musste ergründet werden.
Und dann ging es mir auf: Es war die Erzählperspektive, die alles richtete!
Wie funktioniert das Du in einer Geschichte?
Haben Sie schon Geschichten in zweiter Person gelesen, also mit Du statt Ich oder Sie/Er? Ich nicht. Gehört habe ich davon, jedoch hieß es, es sei ein Kuriosum, eine Seltenheit, die hauptsächlich den Rollenspielen vorbehalten wäre. Ich konnte mir auch keinen sinnvollen Einsatz dafür vorstellen. Also legte ich diese Information als unnützes Wissen ad acta. Basta.
Seit gestern Nacht weiß ich, wie das Du in einer Geschichte funktioniert. Es reißt die Barriere herunter, die das Ich errichtet. Es erlaubt mir persönlich, eine direkte Ansprache des Autors zu ertragen, ohne dass meine innere Stimme jedes Mal empört aufschreit, dass es nicht ich bin, die das tut.
Ich weiß, es klingt seltsam. Schließlich ist das nur eine Geschichte. Dennoch, das Du verschafft dem Autor einen Spielraum in meinem Bewusstsein, wo ich mir (unbewusst) sage „Lass den Onkel erzählen. Mal sehen, wohin ihn seine Vorstellungskraft führt. Lass ihn eine Geschichte spinnen, was ich angeblich tun könnte.“
Und erstaunlich wie es ist, genau dieses Du funktioniert prächtig in Präsens. Warum? Weil das Perfekt bei mir wahrscheinlich wieder dazu geführt hätte, dass meine innere Stimme sich gemeldet hätte. „Nein, das habe ich nicht getan“, würde sie sagen. Weil das Perfekt keinen Spielraum für die Möglichkeit der Geschehnisse offen lässt. Es ist vorbei. Es ist passiert. Und es ist definitiv nicht mir passiert.
Und wissen Sie, was das Erstaunlichste daran war? Dieses Du und dieses Präsens zogen mich in die Geschichte hinein! Sie bewirkten, dass ich mich so richtig tief in die beschriebene Person hineinversetzte. Wow!
Und so wurde ich bekehrt. Wenn auch nur zum Teil. Wenn auch nur für die Geschichten, die in zweiter Person Präsens geschrieben wurden. Immerhin, das ist mehr, als ich erwartet hätte.
Was gibt es sonst?
Ein Novum, wie das Du für mich war, wollte ich natürlich prüfen, ob es auch in anderen Geschichten auf mich wirkt. Ich suchte mir weitere Bücher des Autors und wurde fündig: L’Appel de l’ange. Zwar kein Du, jedoch ein Sie. Wieder zweite Person. Wieder Präsens. Und wieder funktionierte es bei mir. Zugegeben, in dieser Leseprobe wechselte der Autor die Erzählperspektive zu dritter Person, als die Hauptgeschichte losging. Vielleicht ist das der Trick?
Ich würde zu gerne wissen, ob dieser Trick nur diesem einen Autor gelingt.
Kennen Sie weitere Geschichten mit Du oder Sie mit oder ohne Präsens? Funktionieren Sie bei Ihnen? (bitte nicht nur Ja oder Nein; ich möchte die Titel hören).
Ihre Mira Alexander
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